"Es war ein ganz alltäglicher Moment – und zugleich ein Gamechanger", erzählt die Schweizer Eltern-Coachin Tanja Tobler. "Wir waren wandern, meine kleine Tochter musste zur Toilette, sah den Hinweis 'Tampons nicht ins WC werfen' – und stellte mir diese ganz einfache, kindliche Frage: 'Mama, was sind eigentlich Tampons?' Ich habe ihr das erklärt, offen und ehrlich. Doch dann kam ihre nächste Frage: Wie war das bei dir, als du deine Menstruation bekommen hast? Und plötzlich war ich selbst wieder 8 Jahre alt – zurück in meiner Kindheit. Ich hatte damals viele Fragen, aber keinen Raum, sie zu stellen. Vor allem nicht bei meinem Vater. Ich dachte: Was wäre gewesen, wenn mein Mann in dieser Situation allein gewesen wäre? Hätte sie ihn gefragt? Und wenn ja: Hätte er antworten können? Und noch tiefer: Wie präsent wäre er für sie gewesen? Diese Gedanken haben viel in mir bewegt. Denn ich bin heute nicht nur Tochter, sondern Mutter – und ich sehe, wie schwer es uns Müttern manchmal fällt, loszulassen. Nicht, weil wir klammern wollen, sondern weil so vieles an uns hängt." Die geschilderte Situation war ausschlaggebend für Toblers berufliche Zukunft. Heute begleitet sie beruflich stark geforderte Mütter und Väter in Coachings und Vater-Kind-Camps. Ihr Herzensthema: echte Verbindung – jenseits von Perfektion. Im Interview mit Men's Health Dad spricht sie über alte Muster, neue Wege und darüber, was passiert, wenn Mütter loslassen und Väter wirklich da sein dürfen.
Sie sagen, dass so vieles in der Kindererziehung von den Müttern abhängt – wie meinen sie das?
Weil wir oft diejenigen sind, die alles im Kopf haben: Stundenpläne, Geburtstagsgeschenke, Zahnarzttermine, passende Jacken, Brotdosen und Elterngespräche. Und ja – vieles läuft über uns. Aber es liegt nicht nur an uns – wir reißen es auch oft an uns. Weil wir glauben, dass es sonst nicht funktioniert. Oder weil wir denken: "Bevor ich's erkläre, mach ich's lieber gleich selbst." Und gleichzeitig erwarten wir von den Vätern, dass sie alles sofort genauso machen wie wir – mit dem gleichen Blick, dem gleichen Timing, der gleichen Sorgfalt. Aber das ist unfair. Wir geben ihnen weder die Zeit noch den Raum, ihren eigenen Weg zu finden. Und wundern uns dann, warum keine echte Entlastung entsteht. Wenn wir nicht loslassen, wenn wir kein Vertrauen schenken, dann kann sich auch nichts entwickeln. Aber wenn wir es doch tun – dann entsteht plötzlich etwas Neues: nicht Chaos. Sondern Ergänzung. Und genau das ist der erste Schritt zur Entlastung, nach der sich so viele Mütter sehnen. Auch wenn's erstmal ungewohnt ist – manchmal darf es einfach anders sein. Nicht schlechter. Nur anders.
Viele Väter wünschen sich heutzutage mehr Raum, landen aber oft in einer Art Assistentenrolle. Was braucht es, damit sie eine wirkliche Elternrolle übernehmen können?
Zuerst einmal: den Raum, sich überhaupt entfalten zu dürfen. Und dann braucht es Vertrauen – und Mütter, die bereit sind, loszulassen. Nicht alles zu kontrollieren, nicht jeden Schritt zu kommentieren. Denn ja – Väter machen es anders. Sie packen die Brotdose anders, kommunizieren anders, priorisieren anders. Nicht besser, nicht schlechter. Einfach: anders. Und genau das ist der Punkt. Kinder profitieren von diesen Unterschieden. Vom "Wie fühlst du dich?" der Mutter – genauso wie vom "Komm, wir machen das jetzt einfach" des Vaters. Aber solange Väter das Gefühl haben, sie können es ohnehin nur falsch machen, ziehen sie sich zurück. Nicht aus Desinteresse, sondern weil sie keine Lust mehr auf ständige Korrektur haben. Wenn wir Mütter aufhören, überall reinzuregieren, kann etwas Neues entstehen: Verbindung – nicht über Perfektion, sondern über Präsenz. Und das ist oft viel wertvoller als jeder perfekt gefaltete Pullover im Kinderschrank.

Expertin Tanja Tobler
In Ihren Vater-Kind-Camps erleben Sie diese Verbindung hautnah. Was passiert dort, wenn Väter wirklich präsent sind?
Dann entsteht etwas, das viele Kinder im Alltag vermissen: ungeteilte Aufmerksamkeit – ohne Ablenkung, ohne Nebenschauplätze. Wir sind draußen unterwegs, in den Bergen, und ja – es gibt ein Programm. Jeder Tag hat ein eigenes Thema: mal geht's um Vertrauen, mal um Selbstbewusstsein, mal um Kommunikation. Und genau zu diesen Themen machen wir gezielte Übungen und Spiele – spielerisch, aber mit Tiefe. Das Entscheidende dabei: Die Väter sind wirklich da. Nicht nur mit ihren Körpern, sondern mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit. Kein Multitasking, kein Handy, kein "Ich bin gleich wieder da". Und das spüren Kinder sofort. Da ist jemand, der sagt: "Ich sehe dich. Ich nehme mir Zeit für dich. Ich will dich verstehen." Und genau das bleibt hängen – oft für ein ganzes Leben.
Sie begleiten viele Eltern im Coaching. Was beobachten Sie in Familien, wenn Väter Verantwortung übernehmen wollen – und es trotzdem nicht gelingt?
Ich sehe Väter, die wirklich wollen. Die sich einbringen, die übernehmen – und trotzdem ständig das Gefühl haben, es falsch zu machen. Die Brotdose war nicht "richtig" gepackt. Die Jacke angeblich zu dünn. Der Kommentar zur Mathearbeit "nicht hilfreich". Ein Vater erzählte mir mal, dass er stolz war, das Abendessen allein organisiert zu haben – bis seine Frau meinte, er hätte das Gemüse lieber dämpfen sollen, nicht kochen. Kleiner Moment. Große Wirkung. Und irgendwann passiert's: Sie ziehen sich zurück. Nicht, weil sie keine Lust mehr auf Familie haben – sondern weil sie resignieren. Weil sie merken, dass ihr Einsatz ständig bewertet wird. Und das tut weh. Das Ergebnis? Kein Miteinander, sondern Nebeneinander. Abgrenzung statt Partnerschaft. Dabei wünschen sich beide Seiten dasselbe: echte Verbindung, Augenhöhe, Vertrauen. Aber dafür braucht es einen Rahmen, in dem Fehler erlaubt sind. Und in dem nicht sofort der Rotstift kommt, wenn jemand es anders macht.
Podcast-Tipp: Ein ähnliches Thema haben wir auch schon mal in unserem Podcast mit der Mental-Load-Expertin Laura Fröhlich besprochen, hier geht es zum Gespräch:
Sie sagen: Loslassen ist kein Kontrollverlust, sondern ein Vertrauensvorschuss. Was meinen Sie damit?
Wenn ich als Mutter sage: "Mach du das – und ich halte aus, dass du es anders machst", dann verliere ich nicht die Kontrolle. Ich entscheide mich bewusst für Vertrauen. Denn oft geht's gar nicht um das bisschen Mehl auf dem Küchenboden – es geht um etwas viel Tieferes: das Gefühl, gebraucht zu werden. Einfluss zu haben. Bedeutung zu spüren. Aber manchmal bedeutet Liebe eben auch: sich bewusst rauszunehmen, damit der andere reinwachsen kann. Nicht, weil ich dann weniger wichtig bin. Sondern weil ich Platz mache – für echte Ergänzung statt stille Konkurrenz.
Gibt es eine Szene, die für Sie besonders deutlich macht, wie viel von unserer Dynamik oft unbewusst passiert?
Oh ja. Eine Mutter erzählte mir im Coaching von einem Sonntagmorgen, an dem ihr Mann mit den Kindern Frühstück für die ganze Familie vorbereiten wollte – als kleine Überraschung. Eine liebevolle Geste. Der älteste Sohn griff nach der Kakaodose, um Mamas Cappuccino zu veredeln – zog dabei aber versehentlich die Mehltüte mit. Mehl. Überall. Als die Mutter in die Küche kam, war ihr erster Impuls: genervter Blick, Vorwurf, Funkstille bis zum Nachmittag. Später im Coaching sagte sie leise: "Ich glaube, ich muss mich bei meinem Mann entschuldigen." Und dann kam der entscheidende Satz: "Das Krasseste ist – ich habe den ganzen Sonntag gedacht, er müsse sich bei mir entschuldigen. Dabei hat er vollkommen richtig gehandelt: Er hat das Frühstück priorisiert. Ihm war es wichtiger, dass niemand hungrig bleibt – statt erst mal aufzuräumen." Diese Szene steht exemplarisch für das, was in so vielen Familien passiert: Es geht nicht um Schuld. Sondern um Wahrnehmung. Um Prioritäten. Und darum, ob wir bereit sind, die eigene Sichtweise auch mal zu hinterfragen.
Warum liegt Ihnen das Thema Väter und Töchter besonders am Herzen?
Weil ich selbst Tochter bin. Und Mutter einer Tochter. Ich kenne beide Seiten. Ich weiß, wie kraftvoll die Vater-Tochter-Beziehung sein kann – wenn sie gelingt. Und ich weiß auch, wie weh es tut, wenn sie scheitert. Wenn da jemand ist, der eigentlich da sein sollte – aber nicht erreichbar ist. Genau deshalb habe ich mich entschieden, mich bei den Camps auf Väter mit Töchtern zu fokussieren. Nicht, weil Söhne weniger wichtig wären – sondern weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie prägend diese Verbindung sein kann. Unsere Vater-Tochter-Camps sind kein Erziehungsseminar. Kein Reparaturversuch. Und ganz sicher keine Coachingveranstaltung mit erhobenem Zeigefinger. Sie sind eine Einladung: An Väter, in ihre Rolle hineinzuwachsen. Und an Töchter, sich gesehen zu fühlen – nicht, weil sie etwas leisten, sondern einfach, weil sie da sind.
Zum Schluss: Was würden Sie Eltern mitgeben, die sich fragen, wie sie mehr Gleichgewicht in ihre Familie bringen können?
Habt Mut, euch gegenseitig Raum zu geben. Mütter dürfen loslassen, ohne an Bedeutung zu verlieren. Und Väter dürfen Verantwortung übernehmen, ohne alles "richtig" machen zu müssen. Es geht nicht darum, gleich zu sein – sondern gemeinsam da zu sein. Echt. Nicht perfekt. Und genau das macht Kinder stark. Zu spüren, dass sie nicht zwischen den Stühlen stehen. Sondern auf einem Fundament aus Vertrauen, Unterschiedlichkeit – und echtem Miteinander.
Fazit: Familie (ein wenig) neu denken – und Papa einfach mal machen lassen
Tanja Tobler macht Mut, eingespielte Rollenbilder zu hinterfragen – ohne Schuldzuweisungen, aber mit viel Klarheit und Herz. Wer mehr über die Vater-Tochter-Thematik erfahren möchte, dem empfiehlt die Expertin die beiden Bücher "Vater werden – Vater sein" von Matthias Völkert und "Väter und Töchter" von Susann Sitzler. Tobler: "Wenn Väter ihren Platz im Familienleben einnehmen dürfen, und Mütter den Mut finden, loszulassen, entsteht Raum für etwas Neues: für Ergänzung statt Ersatz, für Verbindung statt Kontrolle. Für Kinder ist das ein Geschenk – und für Eltern eine echte Entlastung. Und die Chance, endlich wirklich gemeinsam Familie zu sein."